"Winter lässt Europa erstarren", so lautete die Schlagzeile der "Eifler Nachrichten“ vom 20. Dezember 2010. Und weiter hieß es: „Die Lufthansa rät ihren Kunden: Fahren sie Bahn! Die Bahnt meint: Besser nicht!“
Der Pickup war für 8:50 geplant. Wecken, wie üblich, eine Stunde vorher. Doch die ganze Nacht, bis kurz nach 6:00, wälzte ich mich schlaflos in dem wunderbar bequemen Doppelbett des Swissotel Osaka hin und her. Ich stand auf. Ab 6:30 sollte es Frühstück geben. Auf dem Weg ins Bad fiel mir der dezent unter der Tür durchgeschobene Zettel auf. „Attention Captain. Aircraft will arrive late. New Pickup time 10:40.” Das sah ganz nach einem langen Tag aus. Statt ins Bad ging ich zurück ins Bett und schlief endlich ein.
Das Telefon weckt mich drei Stunden später aus dem Tiefschlaf. „Good morning, this is your wakeup call. It is 9:40”. Also 1:40 morgens deutscher Zeit. Das Aufstehen fiel mir schwer, das Anziehen erfolgte automatisch, fast unbewusst. Beim Rasieren denke ich an die familiären Pläne der nächsten Tage: Meine Frau muss noch heute Abend nach Sao Paulo fliegen. Ich muss - wie geplant - heute Nachmittag in Frankfurt landen. Unsere Kinder sind noch klein, wir können sie nicht ohne Betreuung alleine lassen und das gemeinsame Weihnachtsfest wäre gefährdet. „Weihnachten in der Karibik“, hieß der Klassiker des Crew Ressource Management Trainings, mit der man uns jungen Copiloten vor 15 Jahren klargemacht hatte, dass man operationelle Entscheidungen und private Pläne niemals mischen darf.
Der Magen meldete sich, denn am Vortag lag ich mit Brechdurchfall im Bett – das lag wohl am Besuch dreier Garküchen am Ankunftstag. Gegessen hatte ich seit 36 Stunden nichts. Mittlerweile ist es 9:55, Frühstück gibt es bis 10:00.
Unten lächelt mich die japanische Variante des Weihnachtsmannes an; ein strahlendes Playboy Häschen mit Schal und roter Mütze vor einer Schweizer Skihütte. Am Buffet, japanisch perfekt simulierter europäischer Standard: Orangensaft, Kaffee, Eier, Speck, Müsli, Obst, frische Croissants, Brötchen, viele, viele Verbeugungen und das alles für nur 1500 Yen. Japanisches Frühstück lasse ich links liegen, Fisch mag ich morgens nicht.
Um 10:07 kommt das 8-seitige Fax der Station Osaka KIX ST: „Attention Captain Mr. Ritter. We would be very pleased indeed if attached information could be helpful for your flight planning today. It would be of great help if you could inform our staff your actual BLOCK-FUEL request at the counter immediately after arriving at the airport. Latest booking figures: F:0, C:35, M:233.“ Also eine leere First Class! Da uns aus Sicht der Passagiere ein Tagflug bevorstand, hieß das, es wird für die Crew nichts übrigbleiben. Zum Glück hatte ich mir am Vortag beim 7eleven um die Ecke eine Schale Sushi eingesteckt. Die Crew ist vollzählig und abfahrbereit. Zwei Kollegen haben statt der Uniform Zivilkleidung an. Aufgrund der leeren First und der nur halbvollen Business, sollen sie „dead head“, also als Passagiere zurückfliegen. Jemand hat ausgerechnet, dass dies der Firma Geld spart, da sie so weniger Überstunden ausgezahlt bekommen. Meine Kabinenchefin kommt auf mich zu: „KIX ST hat gerade angerufen. Die KLM wurde ge’cancelled. Wir werden in der Business voll. Ich werde die beiden Dead Heads aktivieren." Ich nicke und wende mich meinen beiden Cockpit Kollegen zu. Mein Senior First Officer Fabian (Name geändert) ist kaum jünger als ich, hat aber nach der Schule zunächst versucht bei der Bundeswehr Marineflieger zu werden und fuhr schließlich als Funkoffizier ein paar Jahre auf einem der Flottendienstboote des Marine Fernmeldestabs 70 zur See. Hätten wir nicht beide unterschrieben, lebenslang über unsere Tätigkeiten dort zu schweigen, wir hätten uns vermutlich stundenlang spannende Geschichten erzählen können. So blieb es bei wunderbar heimeligen Andeutungen. Aber heute Morgen wurden wir dienstlich: „Wie ist das Wetter in Deutschland?“, frage ich ihn, denn weder hatte ich die Wetterseite des Faxes studiert noch selbst das Briefing Paket der LH741 über den Web Based Briefing client gezogen. Warum eigentlich nicht? Eigentlich sind 700 Yen, also etwa 6 EUR, nicht zu teuer für 1h Internet! „Es schneit, überall schneit es“, meint Fabian. Womöglich die Ursache für die Streichung des KLM-Fluges?
First Officer Julia (Name geändert) ist Anfang Dreißig, sympathisch, zuverlässig und spricht mit einer angenehm ruhigen Altstimme. Sie liebt die Natur, hat ihren Freund letztes Jahr bei einer Schlittenhundtour auf Spitzbergen kennengelernt und möchte unbedingt noch Grönland und die Antarktis sehen – und dann erst Kinder bekommen!
„Ja, ja, die Uhr tickt. Weiß ich selbst.“, meinte sie trocken. Konnte sie vor dem Pick Up schlafen? Ein paar Stunden, wegen der Pick Up Verschiebung, genau wie ich!
Unsere beiden Zivillisten, Nicolas, der charmante Franzose und Sonja, von der ich nicht mehr gewusst hätte, dass sie überhaupt zu meiner Crew gehört, haben inzwischen die Uniform angezogen.
Pünktlich um 10:40 wirft sich der Crewbus ins Verkehrsgewühl.
Der Osaka Kansai Airport („KIX“) liegt auf einer künstlich aufgeschütteten Insel, etwa 50 km südlich der Millionenstadt Osaka. Der Stadtflughafen von Osaka wurde zu klein, dient nur noch dem Inlandsflugverkehr. Der Bus fährt zügig, der Verkehr stadtauswärts am Sonntag ist leicht. Die Crew unterhält sich leise über das erlebte Layover. Das Lichtfest in Kyoto war schön, doch die Menschenmassen, das ewige Gewimmel, eine Qual. Zum Glück sind die Japaner meist klein, man kann leicht drübergucken. Einige in der Crew hören ipod, andere versuchen noch etwas zu schlafen, in Deutschland ist es 3 Uhr morgens. Ich schaue mir das Fax an. Das Ablegen „offblock“ von LH741 wurde von 11:15 auf 13:05 verlegt; geplante Startzeit 13:20 japanischer Zeit. Der Operating Flight Plan wurde mit Cost Index 200 gerechnet, das entspricht heute einer Geschwindigkeit bis maximal 83,8% der Schallgeschwindigkeit. Doch selbst mit dieser maximal sinnvollen Höchstgeschwindigkeit werden wir erst nach einer Flugzeit von 11:47 kurz nach 1 Uhr morgens japanischer, bzw. 16:07 UTC, also 17:07 deutscher Zeit landen, 1 ¾ Stunden später als geplant. Auch ohne weitere Informationen ist mir klar, dass mindestens 50 unserer Passagiere ihre Anschlussflüge verpassen und in vielen Fällen die Nacht im Terminal in Frankfurt verbringen müssen.
LH741 soll in diesen 11:47 insgesamt 103 t Kerosin verbrauchen, einschließlich der vorgeschriebenen Reserven muss minimal auf 113 t betankt werden. Das mitschleppen jeder weiteren Tonne wird, so weist der Plan aus, die Firma 223 US$ kosten. Warum? Nun, für jede transportierte Tonne, egal ob Fracht oder Treibstoff, werden 358 kg mehr Treibstoff verbrannt. Die unterschiedlichen Kerosinpreise in Osaka und Frankfurt wurden dabei bereits berücksichtigt.
Die vorgeschriebenen Reserven von heute 10 t teilen sich auf in den Kraftstoff, der bereits auf dem Weg zur Startbahn verbraucht wird, in eine Reserve für unvorhergesehenes auf dem Flugweg nach Frankfurt (heute 3 t), den Treibstoff für den Flug zu einem Ausweichflughafen (heute Köln), ebenfalls 3 t und 3 ½ t sogenannte „Final Reserve Fuel“. Diese letzte Reserve reicht theoretisch für 30 Minuten Flug über dem Ausweichflughafen. Realistischer ist aber, dass bereits kurz vorher die Triebwerke ausgehen.
Die letzten beiden Seiten des Faxes enthalten Wettermeldungen. Zunächst über signifikante Wetterphänomene. Die Typhoon Saison ist längst vorbei, aber der Vulkan Sakurajima ist wieder aktiv! Das Entschlüsseln der kryptischen Meldung und das Einzeichnen der Koordinaten der Aschewolke auf der Papierkarte dauert fast 10 Minuten. Dann wird klar: Von dem weit südlich gelegenen Vulkan, droht uns keine Gefahr.
Der Bus fährt auf der schnurgraden Hochstraße durch die ausgedehnten Industrie- und Hafenanlagen des südlichen Osaka. Nicht nur der Flughafen, auch viele dieser Gewerbegebiete wurden auf künstlichen Inseln in der Bucht von Osaka errichtet. Die Stadt ist gigantisch und das Häusermeer reicht bis zu den Bergen, die die Stadt überall zu umschließen scheinen. Auf mehreren Hochhäusern sind Tennis oder Golfabschlagsplätze eingerichtet.
Ich betrachte mir die auf dem Fax zusammengetragenen Flughafenwetter. Das Wetter von Osaka sehe ich selbst: Sonnig, kalt und für eine Treibstoffentscheidung sowieso nicht relevant. Das aktuelle Wetter von Frankfurt ist 2 Stunden alt. Minus drei Grad Celsius, Schneefall, schlechte Sicht. Die Vorhersage von Frankfurt ist 4 Stunden alt. Für unsere Ankunftszeit wird leichter Schneefall und mäßige Sicht gemeldet, temporär auch mittelstarker Schneefall bei sehr schlechter Sicht, schwachwindig. Eine Temperatur ist, wie üblich, in der Vorhersage nicht enthalten. Köln, Stuttgart, Düsseldorf und Hannover, die vier wichtigsten Ausweichflughäfen, melden alle ähnliche Wetter. Ein Ausweichen nach München ist nicht vorgesehen, der Plan enthält kein Wetter. Noch bevor wir im schönsten Sonnenschein die Hochbrücke erreichen, welche den Osaka-Kansai Flughafen mit dem japanischen Festland verbindet, formt sich vor meinen Augen das Bild der nächtlichen Winterlandschaft. Ganz Deutschland unter Schnee bedeckt, die Landebahnen werden alle halbe Stunde geräumt, der anfliegende Verkehr staut sich. „Da ist sie ja“, weckt mich Fabian aus meinen Gedanken. Von der Hochbrücke hat man einen guten Blick auf die Rollbahn. Unsere A340-600 ist soeben gelandet und legt gerade die letzten Meter zu ihrer Parkposition zurück. Es ist Viertel vor 12.
Wir steigen aus und gehen, die Koffer hinter uns herziehend, im Gänsemarsch zum Check-In Schalter. Üblicherweise fragt der effiziente Kollege von KIX ST hier nach der gewünschten Treibstoffmenge, deswegen hatte er ja das Fax zum Hotel geschickt. Ich war froh, dass er heute nicht fragte, denn ich hatte zwar bereits meine Entscheidung getroffen, diese aber noch nicht mit meinen beiden Cockpitkollegen besprochen.
Nach Abgabe der Koffer geht es zur Sicherheitskontrolle. Japaner zeigen auch hier der Welt wie das geht. Höflich, effizient, sicher. Anschließend wieder durchzählen: 1; 2; 3; … 17. Alle da. Weiter geht’s, zur Passkontrolle. Abgabe der Landekarten und Einkringeln der Funktionsbezeichnung auf der GENDEC, dann Einstieg in die fahrerlose Flughafenbahn. Schließlich kommen wir am Gate an. Der letzte Gast des hereinkommenden Fluges ist längst ausgestiegen und die Reinigungskräfte haben sich in Fluggastbrücke und den beiden Hauptgängen ausgebreitet. Wir schlängeln uns an Bord und sammeln uns in der First Class zum Briefing. Ich erzähle von der winterlichen Kälte Sibiriens und verknüpfe das mit der Bitte augenscheinlich todkranke Passagiere bereits beim Einsteigen zu identifizieren und zu melden. Die A340-600 ist einfach zu groß, um in Yakutsk, Polyarny oder Norilsk aus medizinischen Gründen zwischenzulanden. Dann erzähle ich kurz vom Wintereinbruch in Europa. „Ich weiß nicht, wo wir heute landen werden.“, fasse ich die Lage vielleicht eine Spur zu theatralisch zusammen.
Wieder im Cockpit brüten die beiden ersten Offiziere über den Fuel. Julia soll den Flug eigenverantwortlich durchführen, also wird sie auch den Fuel vorschlagen. Das läuft wie immer recht vorsichtig. Niemand möchte sich mit einem Vorschlag aus dem Fenster lehnen, der von den Kollegen später aus wichtigen Gründen abgelehnt werden müsste. Nicht nur Japaner fürchten Gesichtsverlust. „Ich denke, wir sollten aufgrund der Schneelage mindestens 118 t mitnehmen.“ Das entspricht einer zusätzlichen Reserve, dem sogenannten Extra Fuel für vorhersehbare Störungen des Flugablaufs, von 5 t. Ich schaue Fabian fragend an. „Auch 120 t, also 7 t Extra Fuel, sind zu rechtfertigen“, meint Fabian.
Ich nicke, 120 t war genau der Wert, den ich mir bereits im Crewbus überlegt hatte. Wie rechtfertigt man eine sichere Gewinnminderung für Lufthansa von 1500 US$? Oder wäre mehr Treibstoff nicht noch sicherer? Die A340-600 hat große Tanks, bis zu 134 t hätten wir heute mitnehmen können. Mehr Treibstoff ist nicht immer sicherer. Wenn man ihn nicht benötigt, dann ist das Mitnehmen von Extra Fuel nicht nur kostspielig, sondern der Sicherheit auch abträgig. Denn jede Tonne Gewicht verlängert zum Beispiel die Landestrecke, insbesondere auf einer rutschigen, mit Schneematsch bedeckten Landebahn. Hat man zu wenig Treibstoff um einen Verkehrsstau am Zielflughafen „auszusitzen“, so muss man frühzeitiger „ausweichen“, also einen Alternativflughafen ohne Stau anfliegen, um dort nachzutanken. Statt stundenlang in der Luft zu kreisen, wartet man dort am Boden und mit abgestellten Triebwerken auf das Ende des Staus, was letztendlich nicht unsicherer oder teurer sein muss. Soweit die Theorie.
Also 120 t. Der Tankwart nickt und pumpt die letzten 7 Tonnen in den Flügel.
Das Cleaning wurde mit japanischer Effizienz in Rekordzeit abgeschlossen und unsere Purserette weist für meinen Geschmack viel zu langsam die Crew auf die Durchführung der nun vorgeschriebenen Überprüfung der Passagierkabine auf zurückgelassene Gegenstände hin. Endlich ist auch dieser Check abgeschlossen. Das Einsteigen beginnt um 12:35.
Es ist immer eine Freude, Japaner beim Einsteigen zu beobachten. Niemand bleibt an der Tür stehen und fragt nach dem Weg. Keiner blockiert beim Versuch, sein überdimensioniertes Handgepäck zu verstauen den Gang. Nach knapp 20 Minuten sitzen alle auf ihren Plätzen, keiner fehlt. Wir rechnen mit einem Abflug früher als geplant. Können wir die Verspätung reduzieren?
Der Ops Agent meldet sich. Es fehlen noch 30 Koffer von den Anschlussgästen aus der Südsee. Dreißig? Das ist grenzwertig! Was kostet Lufthansa das Nachschicken von 30 Koffern inklusive Auslieferung per Taxi irgendwo auf der Welt? Was machen die Passagiere ggf. tagelang ohne ihr Gepäck? Doch wenn wir nur 15 Minuten warten, dann verpassen unsere Gäste vermutlich ihre Anschlüsse nach Hamburg, Wien, Moskau und Madrid. Insgesamt 12 Passagiere mehr, die in Frankfurt auf Lufthansa Kosten ins Hotel müssen. Wann sind die 30 Koffer da? „In 5-10 Minuten, meint der Agent.
Für was gibt es die Verkehrszentrale, FRA OZ? Um 5 Uhr morgens deutscher Zeit, kann da nicht viel los sein. Die müssten für so eine Frage jetzt eigentlich Zeit haben. Leider geht mein iphone in Japan nicht, das neue Triband-Captain’s Handy habe ich noch nicht. Der Agent gibt mir seines und fängt sichtlich an zu schwitzen. Natürlich will er, dass wir auf die Koffer warten, aber warum ist ihm das sooo wichtig? OZ meint, wir sollten die 5-10 Minuten warten. „Wenn Sie ankommen, dann ist hier eh die Hölle los und die paar Minuten sind dann auch egal.“ Ich folge diesem Rat. Der Agent atmet auf, wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Captain, you are my hero!“, ruft er erleichtert. Nach 10 Minuten frage ich den Ops Agent. Sind die Koffer schon da? „They are just being x-rayed.“.
Als die Koffer endlich kommen sind 29 Minuten vergangen, es ist 13:24.
Das Warten war wohl eine Fehlentscheidung, denn mehr als 12 Passagiere werden deshalb ihre Anschlüsse verlieren. Hätte man das vorher wissen können?
Die Zeit wurde uns allerdings nicht lang. Passagieransagen, Performance Rechnungen, Besprechung der Abflugstrecke, Lesen von Checklisten. Die Zeit unmittelbar vor „Offblock“, also dem Wegziehen der Reifenblöcke, dem Zurückdrücken von der Parkposition und dem Anlassen der vier Triebwerke, ist voller Aktivitäten und operationell relevanter Entscheidungen. So z.B. die Wahl der Startbahn. Nichts ist beruhigender, als eine 4000m lange Bahn. Aber natürlich ist es bis zu dieser Bahn 10 Minuten länger zu rollen und die 3500m lange Bahn gleich nebenan reicht doch auch, oder?
Ein Bilderbuchstart um 04:40 UTC, 16 Minuten nach Offblock. Julia fliegt den Vollkreis über der Bucht von Osaka von Hand.
Nach dem Start, ein Blick auf den Flughafen Kobe, ebenfalls auf einer künstlichen Insel erbaut. Nach Abschluss des Vollkreises, der Blick auf den alten Stadtflughafen Osaka.
Erst als wir 3000m hoch sind und die umliegenden Berge damit sicher überfliegen können, geht Julia auf Nordkurs. Kansai übergibt uns an Tokyo Control. Der bildschöne Mount Fuji ist rechts in der Ferne zu sehen. Vor uns liegt das Meer, dahinter Sibirien.
Fabian, der zum Start auf dem Beobachtersitz Platz genommen hat, rechnet die Pausenzeiten aus.
Üblich ist, dass von 30 Minuten nach dem Start bis 40 Minuten vor der geplanten Landezeit jeweils einer der drei Piloten Pause macht. Die 3 Pausen sind gleich lang und der den Flug durchführende Pilot, heute Julia, darf sich die Pause zuerst aussuchen. Der Kapitän, der neben dem fliegenden Piloten bei der Landung vorne sitzt, darf als zweiter aussuchen und der Pilot, der bei der Landung nicht vorne sitzt, muss die Pause nehmen, die übrig bleibt. Julia nimmt die beliebte zweite Pause. Ich entscheide mich für die Dritte, also verschwindet Fabian nach hinten in die erste Pause.
Julia und ich beraten über die Fluggeschwindigkeit. Sollen wir wirklich so schnell fliegen, wie geplant? Inzwischen gibt es eine neue Wettervorhersage von Frankfurt und die ist unverändert schlecht. Wenn wir langsamer fliegen, dann kommen wir zwar nochmals 12 Minuten später an, können dort dann aber 15 Minuten länger warten. Wir schauen uns die NOBO, die Liste der Anschlussbuchungen unserer Passagiere an. Man sieht, dass Zürich, Zagreb und Lisabon auch wenn wir schnell fliegen nicht mehr erreichbar sind. Nach Lisabon gibt es eine Lücke von 30 Minuten, Basel geht erst um 19:05. Wir entscheiden uns für den langsameren, treibstoffsparenden Flug.
Unwirklich weich, die schneebedeckten Hügel Ostsibiriens in der schrägstehenden Mittagssonne. Wir fliegen recht hoch, „über Optimum“, Kollegen ziehen unter uns durch.
Als wir den 60. Breitengrad überschreiten geht die Sonne unter. Yakutsk sei geschlossen, so steht es in den „Nachrichten für Luftfahrer“. Heißt das, wir könnten selbst wenn es brennt dort nicht landen? Blockieren Baufahrzeuge die Bahn oder wäre eine Landung im Notfall dort doch möglich? Wir wissen es nicht. Ebenso wenig wissen wir, ob in Norilsk, wo minus 42 Grad Celsius gemeldet werden, beheizte Unterkünfte für unsere 291 Passagiere zur Verfügung stünden oder ob z.B. in Polyarny ein Krankenhaus existiert.
Sibirien zieht in sternklarer Nacht unter uns hinweg.
Vor uns taucht das Packeis des Nordmeeres auf, nur schemenhaft zu erkennen. Wir fliegen entlang des 70. Breitengrades auf das weiße Meer zu. Das Wetter in Frankfurt um 10:12 UTC? Minus ein Grad, gute Sicht, kein Schneefall. Die Landebahnen sind noch vom letzten Schneefall kontaminiert, doch die Bremswerte sind gut: 68-61-53.
Die Vorhersage? Es soll schneien, schlechte Sichten, niedrige Wolken, schwachwindig.
Köln? Ähnlich. Hamburg? Ähnlich. Nach 6 Stunden Flug, knapp zwei Stunden vor Beginn meiner Pause, beginnen mir die Augen zuzufallen. Vor 11 h habe ich die Uniform angezogen, davor aber nur 2 ½ Std geschlafen.
Bing. ECAM meldet sich mit „FUEL LO TEMP“. Die Außentemperatur beträgt -69 Grad Celsius und so hat sich in den äußeren Flügeltanks die Temperatur unseres Treibstoffs auf -40 Grad, den Gefrierpunkt des in USA gebräuchlichen JET A Kerosins, abgekühlt. ECAM weiß nicht, dass wir JET A1 getankt haben, wir haben noch 7 Grad bis zum Gefrierpunkt.
Endlich kommt Julia aus der Pause, die Rochade beginnt. Fabian übergibt mir die Kontrolle über das Flugzeug und steht rechts auf, Julia nimmt rechts Platz. Ich übergebe Julia die Kontrolle und stehe links auf, Fabian nimmt links Platz. Ich bin müde, das Crew Rest Compartment lockt gleich hinter dem Cockpit, doch zunächst mein Rundgang. Katrin wacht in Galley 1. Die First dahinter ist leer, aber in der Business Class sind 52 der 60 Sessel mit meist schlafenden Japanern belegt. An der Treppe zum Lower Deck wacht Keiko. Ein Junge möchte das Flugzeug erkunden und ich zeige ihm die versteckte Tür zur Lower Deck Galley. Vor dem belegten Crew Rest stehen 3 Paar Schuhe.
Alle 238 Sitze der Economy Class sind belegt. Japaner sind anspruchsvoll, aber Enge gewöhnt. Doch einige fangen an, sich um ihre Anschlussflüge zu sorgen. Wie ist die Lage in Frankfurt? Im Cockpit hole ich mir über ACARS die Connecting Gate Info, doch sie enthält nur Gates für Zagreb und Basel, sowie die Mitteilung, dass der Flug nach Zürich gestrichen wurde. Die Abfrage diverser TANGO FGs erhellen die Lage: Auch die Flüge nach London wurden gestrichen. Später las ich in der Zeitung, dass Heathrow den Betrieb komplett eingestellt hatte. Ein Fraport Sprecher machte den Schnee an den anderen europäischen Flughäfen für das Chaos in Frankfurt verantwortlich. Aber was teilen wir unseren Gästen mit? Sollen wir sie vertrösten? Das übliche: „Bitte wenden Sie sich nach unserer Ankunft an unsere Kollegen vom Bodenpersonal?“ Ich sehe das Terminal 1 vor mir, die große Halle schwarz vor Menschen, lange Schlangen mäandrieren durcheinander vor den wenigen offenen Schalter. Die Kolleginnen und Kollegen vom Bodenpersonal, überlastet seit Monaten, können den meisten Menschen nicht weiterhelfen. Rotkreuzhelfer bauen 1000 Feldbetten auf, Leute von der LSG verteilen 10000 Sandwiches. Zauberer und gestrandete Musiker unterhalten die teilweise seit Tagen ausharrenden Familien, die einfach nur Weihnachten zuhause sein wollen. Um 12:10 UTC schicken wir der Station ein ACARS Telex: „Habt ihr schon Umbuchungsinfos für uns?“. Ich hatte mit keiner Antwort gerechnet, doch sie kam schon wenige Minuten später: „LEIDER NICHT. WIR KOMMEN MIT DEN MITTAGSUMBUCHUNGEN NICHT NACH. DAS WIRD WOHL SPAETER NACHMITTAG. WIR WERDEN GERADE VON DER NAECHSTEN SCHNEEFRONT UEBERRANT UND DIE VERHAELTNISSE SIND MEHR ALS CHAOTISCH. DIE MEISTEN FLUEGE SIND AUCH BEREITS ANNULIERT. DIES NUR SCHON MAL ALS VORAB INFO. GRUSS HCC MEIER.“
Ich gehe noch mal durch den Flieger und zeig das Telex der Kabinencrew, übersetze es für die japanischen Kollegen. Die P2 möchte die Passagiere nicht über Public Address informieren, da sie befürchtet, dass die dann zu erwarteten vielen Anfragen erstens den zweiten Service stören und außerdem sowieso keine für Passagiere wertvollen Informationen durch uns verfügbar sind. Ich muss ihr leider recht geben und gehe endlich in mein Crew Rest. Der Raum ist schön dunkel und bald schlaf ich schön. Dachte ich, denn es kam leider anders. Ich kann nicht abschalten, kann nicht einschlafen. Licht an, Bett hochklappen, Sitz aufbauen. Erst mal was essen, die Japaner haben etwas übriggelassen, denn meine seit 14 h ungekühlten Sushis mag ich nicht mehr. Dann den Laptop anmachen und die Verfahren zur Landung auf kontaminierten Bahnen nachlesen.
Eine Stunde vor Ende meiner Pause betrete ich wieder das Cockpit und spreche mit meinen Offizieren die relevanten Verfahren und Vorschriften durch. Sicher staunen sie jetzt, was ich alles weiß. Es ist wichtig, Unklarheiten jetzt zu beseitigen, denn noch ist Zeit, später wird es eng. Wie landet man ein Flugzeug bei Seitenwind auf rutschiger Bahn? Und wie lange muss eine Landebahn sein, wenn Schneematsch auf der Bahn liegt, die Anfluggeschwindigkeit wegen der vereisten Flügelvorderkanten erhöht wurde und die Luft aufgrund des Tiefdrucks von nur 992 hPa dünner ist, als üblich? Wir kommen auf 3600 m. Hätten wir mehr Treibstoff getankt, dann wäre es noch mehr. Die Bahnen in Frankfurt sind 4000 m lang, längere Bahnen gibt es nirgendwo in Deutschland. Julia und ich gehen noch mal schnell auf die Toilette; jeder weiß, später ist dafür keine Zeit mehr.
Um 15:30 UTC meldet Frankfurt in ATIS November schlechte Sicht, mäßigen Schneefall, Temperatur 0 Grad. Nur die Bahn 25 Links ist geöffnet, die Bremswirkung dort sei aber „poor“. 25 Rechts ist geschlossen, dort wird gerade der Schnee von der Bahn geräumt.
Die Startbahn 18 West ist ebenfalls geschlossen. Der Saab Friction Tester, das Auto mit dem die Griffigkeit der Bahn gemessen wird, hat sich dort im Schnee festgefahren.
Um 15:58 UTC, wir befinden uns neben „KUBOG“, 137 Meilen nördlich des Vogelsberges, mit 18,2 t Treibstoff in den Tanks, meldet Frankfurt in ATIS Quebec ein unverändertes Wetter und noch immer ist nur 25 Links geöffnet, mit schlechter Bremswirkung.
Wir theoretisieren nicht mehr über Vorschriften und Verfahren, wir analysieren die vielen, über ACARS abgerufenen und in kryptischer Textform vorliegenden Wettermeldungen. Das Wetter im Norden und Westen scheint schlechter zu sein, als im Süden und Osten. Köln, unser geplanter Ausweichflughafen, hat derart schlechtes Wetter, dass wir ihn als Option verwerfen. Erfurt, Stuttgart, Hannover haben zu kurze Bahnen. Leipzig bietet sich mit seiner langen Bahn an, aber München hat nicht nur zwei 4000m lange Bahnen, sondern es schneit auch nicht: „Runway damp, braking action good.“ Mit dem Laptop auf den Knien, überprüft Fabian auf dem Observer Seat alle in Frage kommenden Flughäfen. Der dritte Mann im Cockpit ist Gold wert.
Wo liegt die Schneefront? Wie schnell zieht sie? Wo wird es wann wie stark schneien? Wo besteht Vereisungsgefahr, denn wir fliegen nicht mehr hoch über dem Wetter, sondern inzwischen mitten drin. Es ist so verdammt zeitaufwändig, das Lagebild im Kopf zu verfeinern. Aktuelle, farbige Wetterkarten. Warum haben wir die nicht?
Um 16:20 UTC, wir haben noch 16,1 t Treibstoff, gibt uns Frankfurt Arrival die Expected Approach Time „EAT“ von 17:17. Es ist nicht klar, wie lange es von dort noch bis zur Landung dauern kann, möglicherweise weitere 20 Minuten, das wären also insgesamt noch 77 Minuten Flugzeit. Die A340-600 verbraucht 120 kg Treibstoff pro Minute, wir hätten also noch 6,8 t zum Zeitpunkt der planmäßigen Landung. Den Kraftstoffbedarf für den Flug nach München schätzen wir auf 4,7 t. Genau berechnen können wir ihn nicht, dafür fehlen uns die IT-Tools bzw. Zeit und geplant war München ja nicht. Zuzüglich der vorgeschriebenen Final Reserve von 3,5 t macht das 8,2 t, uns fehlen also 1,4 t bzw. 12 Minuten Flugzeit.
Im Betriebshandbuch der Firma gibt es das sogenannte „Committment to stay“. Die Idee ist, dass zu dem Zeitpunkt, an dem die Kraftstoffmenge an Bord den Minimalwert für den Flug zum Ausweichflughafen erreicht, der Kommandant zur Überzeugung gelangt, dass ein Verbleib am Zielflughafen sicherer sei, als der Flug zum Ausweichflughafen. Das kann z.B. dann der Fall sein, wenn auch dort nicht mit einer sofortigen Landung gerechnet werden kann. Dieser Fall lag heute aber nicht vor, das Wetter in München war ja deutlich besser, als in Frankfurt.
Um 16:26 UTC, wir haben noch 15,5 t Treibstoff, meldet Frankfurt ATIS Uniform leichten Schneefall, temporär auch mittelstarken Schneefall. Alle drei Bahnen sind wieder offen, die Bremswirkung auf den beiden Landebahnen jedoch zumindest teilweise „poor“. Der Wind ist mit 6 Knoten noch immer schwach, aber er kommt jetzt von der Seite, nicht mehr von seitlich-hinten. Das Handbuch erlaubt aber keine Landung mit einem Seitenwind von mehr als 5 Knoten auf Bahnen mit Bremswirkung „poor“. Zum Glück wird „poor“ auf einer Bahn nur im letzten Drittel gemeldet und wir sind uns einig, dass dort, bei langsamer Geschwindigkeit, die Steuerbarkeit des Flugzeuges auch bei einem Seitenwind von 6 Knoten noch gewährleistet sein müsste.
Um 16:35 UTC, wir haben noch14,6 t Treibstoff, fliegen wir in 17000 Fuß Höhe in die Warteschleife über dem Vogelsberg ein und ich schicke der Verkehrszentrale folgendes ACARS: „EAT 1717. FALLS WIR DIVERTEN SCHLAGEN WIR MUC VOR. KOENNEN NOCH HALTEN BIS 1705.“. Die angeforderte Telex-Quittung blieb aus, kam die Info an? Mit Unterstützung der Verkehrszentrale rechnete ich nicht, die haben sicher genug anderes zu tun – dachte ich.
Durch „CONTRACT ACTIVE“ kommt die ATIS Viktor um 16:33 nun automatisch. Da in der 20-zeiligenWettermeldungen Änderungen zur letzten Ausgabe nicht hervorgehoben werden, können wir so auf die Schnelle keinen Unterschied erkennen. Julia leuchtet mit der Taschenlampe in das Schneetreiben vor der Cockpitscheibe. Eisansatz! Das Enteisungssystem für die Triebwerke läuft schon seit einer halben Stunde, jetzt aktivieren wir zusätzlich noch „Wing Anti Ice“, heizen also die Flügelvorderkante mit warmer Triebwerkszapfluft auf, was natürlich Leistung und Kraftstoff kostet.
Um 16:46 UTC, wir haben noch 13,5 t Treibstoff, schiebt der Contract ATIS Whisky aus dem Drucker. Wetter unverändert. Beide Landebahnen mit 3 bis 5 mm Slush bedeckt. Leichte bis mittlere Vereisung wird gemeldet, insbesondere im Höhenband zwischen 4000 und 7000 Fuß.
Um 16:52 UTC teilen wir der Flugsicherung mit, dass wir nur bis maximal 17:08 halten können und spätestens zu diesem Zeitpunkt nach München fliegen werden. Mit der Quittung „roger“ können wir nichts anfangen, doch kurz danach erfahren wir: „New EAT 1708“. Dank eines unbekannten Retters müssen wir anscheinend doch nicht nach München. Wir verlassen die Warteschleife punkt um 17:08 mit Kurs auf die verlängerte Anfluglinie der 25 Rechts.
Um 17:11 UTC erreicht uns folgendes Telex der Verkehrszentrale: „SORRY FUER DIE LAST MINUTE RETTUNG, ICH BIN ALLEINE AUF DER POSITION UND DIE HUETTE BRENNT …. HAPPY LANDING UND GRUSS AUS DEM CHAOS, O.“
Bing. Es wird nicht langweilig. ECAM meldet „Severe Icing detected“, eine Meldung die ich bislang noch nicht kannte. Wie im Verfahren empfohlen, aktivierten wir die normalerweise abgeschalteten Triebwerkszündkerzen. Sollte sich trotz der aktivierten Triebwerksheizung Eis an der Triebwerksgondel bilden und dann in Klumpen ins Triebwerk fliegen und dieses dort ausblasen, so soll – so die Theorie – die Dauerzündung das Triebwerk automatisch wieder zünden.
Fabian erinnert daran, dass die Vereisung unter 4000 Fuß abnehmen soll und empfiehlt das sofortige Sinken auf 4000 Fuß, der Mindestflughöhe für unsere aktuelle Position, knapp 30 Meilen östlich des Flughafens. Uns dreien ist bewusst, dass es Wetterphänomen wie die „super cooled droplets“ gibt, die zu einem schnell wachsenden und von keiner Enteisungsanlage beizukommenden Eispanzer führen könnten. Viele Flugzeuge sind hierdurch schon abgestürzt; auch noch nachdem der American Eagle Unfall 1994 das Problem bekannt gemacht hat! Wir holen uns die Sinkfreigabe, Julia zieht die Luftbremsen, wir gehen auf 4000 Fuß und die Vereisung nimmt sichtbar ab.
Fabian weist darauf hin, dass der Wind in Böen 21 Knoten erreichen soll. Nach der Sturmwindlandung eines A320 in Hamburg steht im Handbuch, dass in solchen Fällen der Kommandant landen muss. Also „I have control.“ Wir fliegen zunächst weiter, besprechen das Fehlanflugverfahren. Normalerweise führt dies entlang der A3 über das Wiesbadener Kreuz zum Taunus. Wir wollen in diesem Fall aber lieber sofort nach München und nehmen uns daher vor, unmittelbar nach passieren der Startbahn 18 West mit einer Linkskurve auf Südostkurs zu gehen.
Julia schaut sich die letzte Wettermeldung noch mal an. Die dort gemeldeten Böen gelten nur für die Startbahn 18 West, nicht für die Landebahnen. Landung also doch unkritisch – ich übergebe ihr das Flugzeug für die Landung. Sie freut sich!
600 Fuß über Grund wird die Anflugbefeuerung durch das Schneetreiben sichtbar. Julia schaltet den Autopiloten aus und fliegt von Hand. Ich spüre, dass ein Abfangen aufgrund der erhöhten Anfluggeschwindigkeit nicht notwendig ist und zum Glück spürt das auch Julia und fängt praktisch nicht ab. Ich habe den Effekt nie verstanden, aber es ist bei nasser Bahn oft so, dass die Landung sehr weich wird, wo sie doch eigentlich deutlich sein soll, denn bei weicher Landung besteht immer die Gefahr, dass die Airbus Automatik nicht in den Bodenmodus schaltet und Bremsklappen, Radbremsen und Umkehrschub nicht freigibt. So wie 1992 in Warschau, als wir einen A320 verloren.
Die Bremswirkung ist besser als gedacht und wir verlassen die Bahn mit 10 t Fuel um 17:23 UTC. Wegen des Eisansatzes fahren wir die Landeklappen nicht ein.
Das längste Flugzeug der Welt durch einen der engsten und verkehrsreichsten Flughäfen Europas zu bugsieren ist an sich schon nicht trivial. Bei Nacht und Schneematsch wird’s noch mal eine Nummer spannender. Für solche Fälle hilft uns die Taxi Kamera. Doch die im Höhenleitwerk integrierte Optik ist wohl ebenfalls mit einem Eispanzer bedeckt. Man sieht nichts.
9 Minuten nach der Landung, um 18:32 deutscher Zeit kommen wir an B45 zum Stehen. Die unmittelbar danach angeforderte Connecting Gate Info behauptet zwar nur Flüge zwischen 17:59 und 19:29 deutscher Zeit aufzulisten, zeigt aber dann insgesamt 14 Flüge zwischen 16:35 und 18:00, also alles Flüge, die längst abgeflogen und damit für unsere Passagiere unerreichbar sein müssten. Sind sie womöglich noch nicht abgeflogen? Sollte man die Info weitergeben? Ich weiß es nicht und jetzt endlich ist die Brücke angelegt. Wir entlassen unsere Passagiere nach einer Blockzeit von 13:08 ins Terminal 1. Ein Rampagent bringt die Tüte mit dem Briefingpaket für den Folgeflug. „Gehen sie nicht ins Terminal, da ist die Hölle los“, meint er. Und: „Mir tun die Mädels am Check-In leid.“. Er verschwindet draußen im Schneetreiben.
Wir lesen die letzten Checklisten. Die Anspannung weicht einer tiefen Erschöpfung. Ich denke an die Minuten kurz vor der fast notwendigen Entscheidung zur Diversion. Jemand bei OZ hatte der Flugsicherung gesagt, sie sollen uns vorziehen und daraufhin wurden wir um 17:08, also in letzter Minute, aus der Warteschleife geholt. Dieser Jemand hat für mich und viele unserer Passagiere das Weihnachtsfest im Familienkreis gerettet. Ich bin ihm sehr dankbar.
Wir stapfen durch 20 cm hohen Pappschnee zum Crewbus. Die Shuttler wissen, dass sie heute nicht mehr aus Frankfurt wegkommen und suchen sich private Unterkünfte; die Hotels sind alle voll.
Jetzt muss nur noch Sao Paulo klappen – dann, endlich, endlich, Weihnachten!
Andreas Ritter, Weihnachten 2010